Ziemlich genau drei Monate ist es jetzt schon her – mein zweiter Besuch in Utrecht, zum zweiten Mal für ein Konzert von Charlotte Wessels. Es zeichnet sich ein Muster ab. Jedenfalls habe ich ewig an diesem Text rumgedoktort und ihn liegengelassen und Notizen dazugeschrieben und habe mich irgendwie davor gedrückt, den Text in was publikationsfähiges zu überführen. Vielleicht war es die Sorge, dass ein lieblos hingeklatschtes Geschreibsel dem grandiosen Event nicht so richtig gerecht werden würde, dass das Fehlen einer zündenden Idee, einer interessanten mitteilungswürdigen Beobachtung zum Eindruck eines „bemühten Versuchs“ führen würde. Da ich hier aber zuerst für mich als Gedächtnisstütze schreibe und weniger für die hohe einstellige Zahl an regelmäßigen Lesern, und zudem auch nicht demnächst in die Verlegenheit kommen muss, mit Konzertberichten mein täglich‘ Brot zu verdienen, und das ganze Geblogge eigentlich hauptsächlich Spaß machen soll, habe ich mich nun doch dazu durchgerungen, einige Zeilen zu verfassen.
Auch, bevor ich endgültig die vielen Details vergesse – Zeit, die Erinnerungen und Notizen in ein „Konzert-Review“ zu überführen. Genauer: in einen verlängertes-Utrecht-Wochenende-Bericht mit dem Höhepunkt an einem schönen Freitagabend im TivoliVredenburg in Utrecht, Saal „Pandora“: Charlotte Wessels – The Obsession – Live in concert. Nun ja, „Bericht“ – wenn es um Konzerte von Charlotte geht, neige ich ja eher zu „Huldigung“. Man lese meine beiden Abhandlungen zum „Tales From Six Feet Under“-Konzert von Charlotte in Utrecht 2022.
Dieses Mal entschied ich mich für ein paar extra-Tage in Utrecht, um An- und Abreise etwas entspannter anzugehen. Obwohl diese Entscheidung das Verhältnis – Reisekosten – Übernachtungskosten – Konzertkosten vollends ins Absurde driften ließ, war es eine gute Idee – mit mehr Ruhe lässt es sich einfach besser genießen und auch mehr Platz für Aktivitäten drumrum. Vom Eivør-Konzert einen Tag zuvor hatte ich ja schon berichtet, dazu kamen ein paar Zusammentreffen mit anderen Patrons, die ich teilweise noch von Utrecht 2022 kannte – im kleineren (Pancakes bei Anna Pancakes, Burger bei Meneer Smakers) oder größeren (Hangover Hangout Vol. II im Gys) Rahmen.
Ich beginne mit der Erzählung mal mit der Mittagszusammenkunft bei Anna Pancakes in der Utrechter Innenstadt. Ein sehr entspanntes Zusammentreffen mit alten und neuen Bekannten aus dem Patreon-Kreis. Da ich „aus Gründen“ mehr das Pikante denn das Süße bevorzuge, entschied ich mich neben dem obligatorischen Earl Gray für einen Pancake namens „Morning Shizzle“ mit zusätzlich etwas Räucherlachs, was geschmacklich ein absoluter Volltreffer war, und zudem kunstvoll angerichtet. Kein Wunder, dass einige Patrons noch von ihrem Zusammentreffen damals 2022 schwärmten und deshalb für 2024 die Wiederholung ansetzten. Zudem erfolgte hier die konspirative Übergabe der neuesten NSFW-T-Shirt-Kreation mit dem kaum missverständlichen „Pien is rising“-Aufdruck – jedenfalls für Charlotte-Kenner, die mit „Venus Rising“ was anfangen können und die Ziege namens Pien kennen sowie das Misheard-Lyrics-Projekt, das in einem sehr lustigen Video für Charlotte endete. Wer allerdings (wie ich) mit diesem T-Shirt durch die Innenstadt von Utrecht läuft, kommt nicht umhin zu bemerken, dass der Schriftzug durchaus für hochgezogene Augenbrauen bei den Uneingeweihten (also: fast allen) sorgen kann. Ein sowohl merkwürdiges als auch amüsantes Gefühl.
Und dann wurde es auch schon Zeit, sich langsam fürs Konzert anzustellen. In 2022 war das Konzert noch im deutlich größeren Saal „Ronda“ im TivoliVredenburg, der damals nicht ganz voll wurde. Diesmal eine Nummer kleiner im Saal „Pandora“, der restlos ausverkauft war – das dürften rund 700 Besucher gewesen sein. Der Saal befindet sich im siebten Stock des TivoliVredenburg und ist über eine wilde Abfolge von Rolltreppen zu erreichen – was auf dem Hinweg sehr einfach und geradeaus und es-gibt-nur-einen-Weg-nach-oben wirkte, zum Rückweg dann später mehr.
Diesmal machte ich keinen Stop beim Merchandise – es sah sehr voll aus, und ich fühlte mich T-Shirt-mäßig schon sehr gut ausgestattet. Also direkt in den Saal, eine gemütliche Ecke direkt vor dem Mischpult für die optimale Übersicht über das Geschehen ausgesucht. Als Support Act war „Faunea“ angekündigt, ich hatte vorab recherchiert und auch schon vorsichtige Skepsis geäußert vor allem ob des mancherorts gezogenen Vergleichs mit Bjork. Es stellte sich dann aber im Setup „Frau mit akustischer Gitarre“ (im Gegensatz zu den sehr elektronischen synthilastigen Studioversionen) als sehr gut hörbar und vor allem gesanglich hochklassig heraus. Musikalisch nicht mein Ding, aber auch nicht nervig. Und was könnte man mehr von einem Support Act erwarten. Auch soundtechnisch gut abgemischt, was die Vorfreude noch steigerte.
Und so begann nach einem kleinen Intro endlich das Hauptereignis mit dem Opener „Chasing Sunsets“ (keine separate Setlist in diesem Artikel, die gibt es ja zum Nachlesen bei Setlist.fm), eines meiner Lieblingsstücke vom neuen Album „The Obsession“, das auch dem Konzert seinen Namen gab. Und auch live bleibt festzustellen: mit „The Obsession“ haben Charlotte und Band das Kunststück vollbracht, das bisher noch keiner geschafft hat: ein Album voll mit überarbeiteten Versionen von Songs, die ich in ihrer früheren Patreon-Song-Of-The-Month-Inkarnation schon sehr mochte, aber in der Neufassung noch viel besser finde. Üblicherweise, wenn ich mich mal an eine Fassung eines Songs gewöhnt habe, bleibt das für immer meine bevorzugte Version. Nicht so bei den „The Obsession“-Versionen, die ich allesamt besser finde als ihre Urfassungen. Und „Chasing Sunsets“ macht da keine Ausnahme. Der Song ist deutlich härter und metalliger geworden, und – um einen ehemaligen Bürgermeister von Berlin zu zitieren – das ist auch gut so.
Bei „Chasing Sunsets“ schien es einige Probleme mit dem Mikrofon von Charlotte zu geben, man fühlte sich soundtechnisch ganz kurz an die legendären Crowdcast-Audioprobleme bei den Hangouts erinnert, aber wenn ich das von hinten richtig beobachten konnte, war nach einem Mikrotausch alles wieder in Ordnung.
„Dopamine“ folgte, auf dem Album bekanntlich ein Duett mit der großartigen Simone Simons von Epica – die Simone-Fans mögen es mir verzeihen, aber der Song ist live mit Charlotte-Solo-Gesang genauso gut.
Dann wurde die Mischung etwas bunter – Afkicken vom TF6FU Vol.I und Pity Party, SotM #50 vom Mai 2024, bisher auf keinem Album aufgetaucht. Nicht mein Song-Favorit, aber in der Live-Version definitiv der 6FU-Studio-Version vorzuziehen. Mit „Toxic“, „Cry Little Sister“, „Human To Ruin“ und „Superhuman“ kamen dann vier Klassiker aus der TF6FU-Zeit zur Aufführung, bevor mit „Soulstice“ wieder zum aktuellen Album umgeschwenkt wurde. Obwohl die Songs definitiv – Vorsicht, große Worte – aus unterschiedlichen Äras stammen, wirkte der „Song Flow“ im Live-Setting ganz natürlich und harmonisch. Erstaunlich.
Mit „Ode To The West Wind“, eine der Single-Auskopplungen von „The Obsession“ und im Original ein Duett mit Alissa White-Gluz, kam auch (endlich!) Eli mit dem Cello zum Einsatz. Die „harsh vocals“ übernahm wie üblich Otto, der die Aufgabe routiniert erledigte. Und genau wie bei „Dopamine“ fand ich, dass Charlotte diesen Song auch solo überzeugend darbrachte. Und dass Charlotte auch in Hinsicht auf „harsh vocals“ Fortschritte gemacht hat, bewies sie dann bei „The Excorcism“. Sie war voll im Flow und growlte die entsprechenden Passagen mit einer Inbrunst – Respekt. Sie hatte in der Vergangenheit immer wieder betont, dass sie da bei den Growls noch etwas mehr üben muss und immer noch etwas Sorge hat, dass es ihre Stimme möglicherweise zu stark belastet. Vielleicht war deshalb auf der Setlist danach „Combustion“ (ein Instrumental-Stück aus Delain-Zeiten, bei dem die vier Musiker wirklich alle ihr Können unter Beweis stellen dürfen) angesetzt, damit sich die Stimme für 5 Minuten erholen konnte, nur für den Fall der Fälle? Kann ich mir bei Charlotte als akribische Planerin durchaus vorstellen.
Für den nächsten Song, „Praise“, kam dann gesangliche Unterstützung auf die Bühne: zwei Sängerinnen und ein Sänger übernahmen den Vocal-Part des Gospel-Chors, der für die Studio-Version von „The Obsession“ den Gesang geliefert hat. Ich sage mit Absicht nicht „Background-Gesang“, denn das wäre untertrieben. Das Wechselspiel zwischen Chor und Charlotte bei den Vocals gelang auch im Live-Setting ausgezeichnet. Und man könnte sagen, es bereitete den Boden für das erneut wundervolle „All You Are“, bekanntlich eines der eher softeren Lieder aus dem Werk der Charlotte Wessels.
Es folgte „Vigor and Valor“ – oder doch „Vigor & Valor“ (Original-Titel SotM) oder etwa (wie auf dem Album-Cover) „Vigor + Valor“? Jedenfalls ist dieser Song einer meiner Favoriten, schon als Song of the Month, aber noch mehr in der Album-Version von „The Obsession“. Eine runde Sache inklusive des „Breathe“-Outros.
Hatte ich vorher von der akribischen Planerin Charlotte Wessels geschrieben, so verkörpert der dann folgende Song „Backup Plan“ dieses Mindset perfekt – zumindest dem Titel nach. Und es ist auch der Moment, um mal das Bühnenbild anzusprechen – zwei riesige Kronleuchter thronten über der Bühne und verbreiteten irgendwie ein heimeliges Gefühl. Ein paar Wochen nach dem Konzert las ich von einem Stromausfall mitten in einem Rock-Konzert, und musste sofort an die Kronleuchter denken: hatte Charlotte womöglich ein paar Kerzen in petto, als ultimativen „Backup Plan“ für den Fall der Fälle?
Vor den Zugaben dann ein kurzes Überstreifen des passenden T-Shirts mit der Aufschrift „I ❤ Crying“, denn „The Crying Room“ stand an. Charlotte verarbeitet in diesem Stück ihre Ängste, unter anderem davor, auf der Bühne vor vielen Menschen zu stehen, und ich vermute, sie hat mit dem T-Shirt eine Art Bewältigungsritual etabliert, um dem ganzen Problemkomplex eine heitere Seite abzugewinnen. Nebenbei: auf der anschließenden Support-Tour mit Vola schaffte es eine leicht „vergothte“ (schwarzes Herz!) Variante des Shirts mit dem bekannt schlecht leserlichen Font, der auch das The Obsession-Cover ziert, ins Merchandise-Programm, und Charlottes Ansage nach Übertreifen des Shirts fügt inzwischen auch den willkommenen kapitalistischen Effekt dieser ganzen Aktion mit einem Augenzwinkern hinzu. In Patron-Kreisen ist das T-Shirt absolut zum Kult avanciert. Jenseit von all diesem „Gedöns“ soll aber nicht davon abgelenkt werden, dass „The Crying Room“ insbesondere in der Album-Version ein wirklich wunderschöner Song ist. Auch und besonders live. Quasi „zum Heulen schön“.
Und schon sind wir bei den Zugaben, bevor das Konzert dann nach gut zwei Stunden endete. „Against All Odds“ in der bekannten „Unplugged“-Fassung mit Otto, Timo und Charlotte, die aber letztlich auch die Original-Fassung von TF6FU Vol. II ist. „Reduce To The Max“ war mal ein Werbespruch unter anderem für einen Kleinstwagen im Premiumpreissegment von einem Hersteller, den ich ungenannt lassen will. Aber das Motto trifft hier zu, die Trio-Besetzung und genauso viel oder wenig, wie dieser Song braucht. Und fürs Publikum ein Moment zum Verschnaufen und sich an die gute alte Zeit zu erinnern, als man noch Feuerzeuge bei Konzerten schwenkte. Wer bei „The Crying Room“ noch keine feuchten Augen hatte, war spätestens jetzt in Gefahr.
Es folgte „Serpentine“, als SotM #35 noch „The Butterfly Effect“ genannt. Ein Song mit einer ganz bezaubernden Piano-Verzierung, die vermutlich jeder, der das Lied schon kannte, im Geiste schon antizipierte. Und ein weiterer Song in der Liste derjenigen, die von der Band-Überarbeitung für die Album-Version extrem profitierte: das Timo-Somers-Gitarrensolo ist jedenfalls phantastisch. Da wippt der Kopf, und das Herz geht auf.
Oft redet man vom „krönenden Abschluss“, und selten ist es so gerechtfertigt wie hier, denn der letzte Song war „Soft Revolution“, natürlich in der 2024er Album-Version. Auch hier ist natürlich das phantastische Timo-Solo zu nennen, aber generell ist der Song ein Meisterwerk und nach wie vor mein Liebling im an Highlights nicht armen Wesselschen Werk. Und in dieser speziellen Version kam noch die Unterstützung vom Chor hinzu, nochmal ein zusätzliches gewisses Etwas. Hatte ich vorher noch von „Reduce To The Max“ geschrieben, lief das eher unter „More is More is Better“. Das Publikum jedenfalls war der gleichen Ansicht und belohnte die gesamte Performance mit dem wohlverdienten langanhaltenden Applaus.
Nach dem Konzert habe ich auch die Chance genutzt, mit ein paar alten Bekannten von vor zwei Jahren ein paar Worte zu wechseln. Es tut immer wieder gut, die wunderbaren Eindrücke eines solchen Ereignisses direkt mit Gleichgesinnten zu teilen. Auch der Community-Aspekt ist durchaus Teil der Charlotte-Magie. Weniger magisch, sondern eher verstörend, war dann mein Tagesabschlussversuch, aus dem siebten Stock des TivoliVredenburg-Labyrinths wieder ins Freie zu gelangen. Nicht weniger als drei Mitarbeiter (oder waren es nur zufällig herumstehende unbeteiligte Besucher?) musste ich fragen, um die richtigen Rolltreppen nach unten zu erwischen. Wo sind die hilfreichen Hinweisschilder wenn man sie mal braucht. Jedenfalls beeindruckend, was auf jeder Ebene dieses Gebäudekomplexes so alles abgeht zu später Stunde. Sogar an einer Tischtennisplatte bin ich auf meiner Kurzodyssee vorbeigekommen.
Noch ein paar beiläufige Anmerkungen zum Abschluss – in Anbetracht des Gesamterlebnisses so unbedeutend wie unspektakulär. Wie immer muss ich die „Bühnenatmosphäre“ loben. Es fühlt sich immer an wie wenn gute Freunde zusammen Musik machen. Die Atmosphäre wirkt so liebevoll und gleichzeitig entspannt und humorvoll. Voller Freude und auch gegenseitigem Respekt und Zuneigung. Besonders das „Trio“ bei Against All Odds bestehend aus Otto, Timo und Charlotte unterstrich das nochmal.
Irgendwie ist mir auch das Detail unter dem Arbeitstitel „Der Kampf gegen die Luftschlangen“ im Gedächtnis geblieben. Ich habe keine Ahnung wie die Dinger im Event-Fachjargon heißen, es scheinen die Nachfolger von Konfetti-Kanonen zu sein: es werden lange Papierbänder, eben Luftschlangen, aus der Höhe der Bühne im Bogen Richtung Publikum abgeschossen. Das hat neben dem „Aha-Effekt“ dank Flugbahn und Mehrfarbigkeit auch potenziell unerwünschte aber interessante Auswirkungen: einige landen auf der Bühne, was den unverzichtbaren Beardboy zu einem Kurzeinsatz mit dem Besen veranlasste. Und einige bleiben im Hallendeckengerippe und den Scheinwerfern hängen, was sowohl für Publikum als auch Künstler teils zu leichten Irritationen und zu mückenverscheuchartigen hektischen Bewegungen führte. In den diversen Videos auf YouTube vom Konzert kann man einige dieser Luftschlangen da unmotiviert im Bild rumhängen sehen.
Das nächste Konzertereignis dieser Art wird die derzeit für 2025 einzige „Headliner-Show“ im Bibelot in Dordrecht am 2025-02-21 . See you there!
Und damit endet dieser Bericht. Vielleicht schreibe ich noch ein einen Folgeartikel zum „Hangover Day“ am nächsten Tag inklusive „Hangover Hangout“, denn dieser Artikel hier ist schon wieder viel zu lang geworden. Man stelle sich vor, ich hätte den direkt nach dem Konzert verfasst, als ich noch nicht die Hälfte vergessen hatte – nicht auszudenken, das hätte ja kein Schwein gelesen. Gruß an alle, die bis hierher durchgehalten haben.
Noch ein spezieller Service für Charlotte-Patrons: hier der Link zum „The Obsession Release show photoblog“, um mit Hilfe einiger sehr schöner Fotos (auch zur Illustration „Profis machen echt viel bessere Fotos“ geeignet) in Erinnerungen an dieses Konzertereignis zu schwelgen.