Ich bin durchaus Fan von Filmen, die sich dokumentationsartig mit historischen Ereignissen befassen. Selbst wenn sie so weit von der historischen Wahrheit sich entfernen wie Oliver Stones „JFK“. Ein gutes Beispiel für ein gelungenes Exemplar ist „13 Days“, den selbst Kevin Costner nicht ruinieren konnte.
Nun habe ich „Vice“ angeschaut, ein angeblich dokumentarischer Spielfilm über Dick Cheney, der breiten Masse der Bevölkerung bekannt als Vizepräsident von George H.W. Bush (2001-2009). Der Film leitet ein mit einem textuellen Hinweis, dass hier ausschließlich nachgeprüfte Fakten gezeigt werden (und endet auch mit einer heutzutage scheinbar unvermeidlichen Trump-und-seine-Wähler-Bashing-Szene, die ebenfalls stark suggeriert, dass hier nur geprüfte Fakten Basis des Films seien), aber es sehr schwierig gewesen sei, aufgrund der Geheimniskrämerei von Cheney viele Details historisch abzusichern. Das legt die Latte ziemlich hoch. Und im Prinzip alle Filmszenen, die Dialoge und der Zusammenschnitt der Bilder unterqueren diese Latte berührungslos. Für solche Fälle wurde das Adjektiv „unterirdisch“ geboren.
Die deutsche Wikipedia klassifiziert den Film allerdings als „satirische Filmbiografie“ – die Ausrede „Satire“ wird ja heutzutage gerne verwendet, wenn man der Lüge überführt wird und es plötzlich gar nicht ernst gemeint hat. Zumindest nicht die Details. Also nicht die falschen Details. Das läuft dann unter künstlerischer Freiheit. Eine Umfrage unter den (in ihrer Anzahl überschaubaren) Mitkinobesuchern hätte vermutlich die beinahe einhellige Meinung „Dokumentation“ hervorgebracht.
Der Film ist aus meiner Sicht ein propagandistisches Machwerk, das für jeden historisch Interessierten ein Schlag ins Gesicht ist. Allerdings passt das allgemein im Film verfolgte Narrativ natürlich hervorragend zur in Deutschland veröffentlichten Meinung über die Regierung Bush, den Irakkrieg, Krieg für Öl, die amerikanische Wirtschaft, Carter vs. Reagan, 9-11, den Krieg gegen den Terror und das amerikanische Justizsystem mit dem Supreme Court im Zentrum. Für amerikanische Zuseher endet die Glaubwürdigkeit des Filmes vermutlich spätestens bei der Glorifizierung von Jimmy Carter, der nach allgemeiner Ansicht jenseits des Atlantiks völlig zurecht als einer der schlechtesten Präsidenten in der Geschichte gilt.
Auch in scheinbar nebensächlichen Details biegt der Film die Wahrheit in die gewünschte Richtung. Die Aussage, dass gerade Israel den Krieg gegen den Irak nach 9-11 nicht wollte, ist lachhaft und kann durch 5 Minuten Recherche (sofern man die historischen Begebenheiten nicht sowieso noch im Kopf hat – besonders der Vorlauf zum Irakkrieg sollte als Zentrum Schröderscher Wahlkampfpolemik ja noch im kollektiven Gedächtnis des bundesdeutschen Wählers präsent sein) falsifiziert werden.
Merkwürdig ist das nahezu vollständige Ignorieren der Amtszeit Cheneys als Verteidigungsminister in der Bush-Ära (Bush senior natürlich!) – gerade seine Rolle als Manager des ersten Irakkriegs hat Cheney einen parteiübergreifend guten Ruf bei Politikern und Wählern eingebracht. Kommt im Film nicht vor, der vermutlich sein Basisnarrativ nicht unnötig durch Details belasten will. Ebenso merkwürdig eine Szene, in der nahegelegt wird, dass Cheney zu Anfang seiner politischen Karriere gar keine Grundüberzeugungen hatte und irgendwie durch ein Wunder (oder alternativ den – selbstverständlich schlechten – Einfluss von Rumsfeld, der im Film geradezu als lächerliche Gestalt dargestellt wird) zu einer konservativen Einstellung fand.
Besonders die Darstellung der Geschichte in der Folge von 9-11 ist extrem einseitig, entspricht aber weitestgehend der typischen linksliberalen Sichtweise, dass alle offiziell genannten Gründe für diesen Krieg künstlich fabriziert wurden und lediglich der Sturz Saddams samt Übernahme der irakischen Ölreserven durch US-Firmen, insbesondere von Cheneys Ex-Arbeitgeber Haliburton, wären die wahren Motive dahinter gewesen. Sicher eine mögliche, aber eher unwahrscheinliche Erklärung für die Ereignisse.
Aber vollends absurd wird es, als Cheney auch noch verantwortlich gemacht wird für den Aufstieg des IS samt der daraus resultierenden Toten. Man mag die – historisch verbriefte – öffentliche Nennung von al Zarquawi als (un)freiwillige Starthilfe für dessen Terroristenkarriere interpretieren, aber dann zu unterschlagen, dass dieser bereits 2006 getötet wurde durch die eben noch verdammten Mittel des Kriegs gegen den Terror, und er trotzdem irgendwie noch für den zeitlich viel späteren Aufstieg des IS in Syrien und dem Irak verantwortlich sein soll…wie gesagt, absurd.
Und der Film reichert das Ganze noch phantasievoller an, mit einer Geschichte rund um den Tod der Schwiegermutter Cheneys – es wird im Film zumindest nahegelegt, das diese von ihrem Mann ermordet wurde und die Polizei unzureichend ermittelt habe. Mir war diese Story völlig neu, und tatsächlich hält sie auch keiner Recherche stand. Natürlich lügt der Film hier nicht direkt, aber Auslassung nebst Übertreibung mit Einstreuungen von Halbwahrheiten war schon immer das Lieblingsstilmittel begabter Lügner. Dazu Geraune und „Guilt by Association“, ebenfalls bewährte Stilmittel der Desinformation. Gerne lässt man Bilder „für sich sprechen“ und wehrt sich dann gegen naheliegende Interpretation derselben. Propaganda eben.
Leider setzt die deutsche Synchronisation noch einen einsamen negativen Höhepunkt auf die ganze Misere, indem doch tatsächlich das amerikanischer „liberal“ mit dem deutschen „liberal“ übersetzt wird. Das ist ungefähr so, als wenn man „silicon“ mit „Silikon“ übersetzt (was ja auch leider recht häufig passiert).
Immerhin ist der Film begrenzt lehrreich, was den heute üblichen Umgang mit den Tatsachen angeht, wie „Framing“ funktioniert, was die Amerikaner mit „talking points“ meinen, und warum eine Mehrheit der Amerikaner es tatsächlich übers Herz gebracht haben, Donald Trump zu ihrem Präsidenten zu wählen.
Vice war für 8 Oscars nominiert, was vermutlich mehr über das Hollywood-Mindset als über die Qualitäten des Films aussagt. Insbesondere die Nominierung in den Kategorien „Beste Regie“, „Bestes Originaldrehbuch“ und „Beste Nebendarstellerin“ sind schwer nachvollziehbar, die schauspielerischen Leistungen jenseits von Christian Bale (das einzige Highlight des Films) sind irgendwas zwischen unterirdisch, holzschnittartig und unfreiwillig slapstickhaft, und vermutlich zu guten Teilen ein Problem von Drehbuch und Regie. Zur Ehrenrettung Hollywoods sei gesagt, dass er letztlich nur in der Kategorie „Bestes Make-up und beste Frisuren“ einen Oscar gewonnen hat, was durchaus sinnbildlich für die Qualität des Films zu sehen ist.
Nun ja. Auf historische Erkenntnisse gehofft und ein Michael-Moore-artiges Machwerk bekommen. Kann passieren, bleibt aber ärgerlich.